meinungsfreiheit und selbstverstümmelung

Artikel 5

(1)   Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. …

ein bekannter, beruflich im – sagen wir mal – bereich verkauf und vermittlung unterwegs, hat kürzlich geklagt: als selbständiger kannst du dir keine eigene meinung leisten.

bei einem freund hat einer in die kommentar-spalte geschrieben: als gastwirt müsse er mit seiner eigenen meinung hinterm berg halten.

der stellvertretende liegenschaftsamtsleiter im rathaus einer mittleren grossen kreisstadt, der kassier in der führerscheinstelle im landratsamt, der hauptabteilungsleiter im ernährungsministerium – von ihnen und ihren kollegen kennen wir den entschuldigenden satz nebst dem verständnisheischenden augenaufschlag schon geraum: „ich kann nichts sagen, ich bin beamter“.

aber es nimmt halt zu.  der mercedes-mitarbeiter aus der mittleren management-ebene wird den teufel tun und mal farbe bekennen. es könnte ihm ja beruflich schaden. und dort, wo wir uns im bereich gesellschaft bewegen, wird’s ganz herb. hinter vorgehaltener hand oder auf’m weinfest nach der fünften probe wird schon mal klartext geredet: über verwaltungs-willkür, ausgebrannte lehrer, durchgeknallte nachbarn. aber um himmels willen nicht laut sagen: ich bin drauf angewiesen, die kinder müssen morgen wieder zur schule, wir wollen weiter in dem frieden leben, den wir uns so adrett zurecht arrangiert haben.

schwanz-einziehen wird zur staatsbürgerlichen selbstverpflichtung.

auch das bunte völkchen der journaille schleift täglich die schere. die, die im eigenen kopf angesetzt wird. kommentare, so sie überhaupt noch geschrieben oder gesprochen werden, werden – ein widerspruch in sich – an der sogenannten ausgewogenheit gemesslattet. im gegenzug spielt diese ausgewogenheit dort, wo sie dringend angesagt sein müsste: in der berichterstattung nämlich, eine immer stärker vernachlässigte rolle.

und jeder, der sich seiner meinungs-eier entledigt hat, findet gründe, die mit ihm selbst so gar nichts zu tun haben: die umstände, die grosswetterlage, die gesellschaft, die politik. tot-schlagworte. bei näherer betrachtung so substanzlos wie rotwein aus dem tetra-pak.

glauben wir denn, dass es sich besser bestellen wird um die meinungsfreiheit, wenn wir diese freiheit in einem akt von selbstverstümmelung beschneiden? sollte es tatsächlich zutreffen, dass die politiker genauer auf uns hören, wenn wir schweigen? werden diskussionen gehaltvoller, wenn wir ihnen unsere argumente entziehen?

die freie meinungsäusserung ist ein recht, keine pflicht. einverstanden. aber wenn wir uns nicht selbst verpflichten – wenigstens gelegentlich -, unsere meinung in allem nötigen respekt und mit aller angesagten deutlichkeit zu formulieren, dann wird’s bald auch mit dem recht nicht mehr weit her sein. dann wird die freie meinung zum minderheitsrecht der mächtigen. sollten wir das dann überhaupt noch schnallen, werden wir ohnmächtig jammern: warum nur? wir haben doch gar nichts getan.

eben.

(übrigens: der freund, dem der gastwirt mit der auto-kastrierenden gleichgültigkeits-attitüde ins buch geschrieben hat, ist einer der vorbildlich offenen und hörbaren. meine verehrung, joannis.)

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